Wissenskongress des NETGEST e.V. in der thüringischen Stadt Weimar (Deutschland)

 

 In der thüringischen Stadt Weimar, etwa 20 Kilometer östlich von der Hauptstadt des deutschen Freistaates Thüringen Erfurt entfernt, fand vom 6. bis 9. Juli 2023 der zweitägige Wissenskongress und auch das Meeting des EU-Projektes Erasmus+ am Vortag sowie die Stadtführung am letzten Tag statt. Es nahmen etwas mehr als hundert Teilnehmenden an dem Wissenskongress teil. Die Organisation dieses spannenden Events übernahm das NETGEST e.V. – Abkürzung für „Netzwerk Gebärdensprache, Erwachsenenbildung und Soziale Teilhabe“ mit dem Vorsitzenden Rudi Sailer und seinem Team. Der Ort des Wissensforums war im Kongresszentrum Weimarhalle in Weimar. An diesem Kongress nahmen gehörlose Personen aus mehr als acht Ländern teil, und zwar aus der Slowakei, Tschechien, Italien, Slowenien, Österreich, Belgien, Israel, den USA, der Ukraine und natürlich kam die Mehrzahl aus unterschiedlichen Bundesländern Deutschlands.

 

An diesen zwei Tagen wurde auch Kinderbetreuung angeboten, wo einige Kinder teilgenommen haben, weil deren Eltern die Referate beim Wissenskongresses mitverfolgten. Das Kinderprogramm bestand aus Malen, Basteln, Spiele, Erzählungen, kleine Theaterspiele, Workshops usw.

 

 Meeting des EU-Erasmus+-Projekt am Vortag des Wissenskongresses

 

Am ersten Tag, dem 6. Juli 2023, fand im Hotel Kaiserin Augusta in der Nähe des Bahnhofes Weimar das zweite Meeting des EU-Erasmus+-Projektes mit dem Projekttitel „Politische Erwachsenenbildung und Empowerment für taube Bürger*innen“ statt. Gefördert wird das Projekt von der EU im Bereich „Strategische Partnerschaften – Europäische Zusammenarbeit in der Erwachsenenbildung (NABIBB – Bildung für Europa)“ des Erasmus+. Das Treffen wurde in einem Seminarraum dieses Hotels durchgeführt, wo auch die Teilnehmenden des Projektes übernachteten.

Der Projektkoordinator liegt beim NETGEST e.V. (Deutschland), Beteiligt sind die Projektpartner:innen aus fünf Gehörlosenorganisationen bzw. Gehörlosenverbänden aus der Slowakei, Tschechien, Italien, Slowenien und Österreich an diesem Erasmus+-Projekt. Des Weiteren wurden auch zwei Gäste aus Israel und Belgien eingeladen. Der Vorsitzende des Projektes, Rudi Sailer, freute sich an der regen Beteiligung des Meetings. Das Projekt begann am 15. Dezember 2022 und wird am 14. Dezember 2024 enden, also beträgt die Gesamtdauer 24 Monate.

Die Ziele des Projektes sind:

-          Europäische Zusammenarbeit à Austausch und Informationsweitergabe

-          Grundstein für ErWaB (Abkürzung für Erwachsenenbildung) legen

-          Stärkung des politischen Bewusstseins

-          Sensibilisierung gegenüber der Notwendigkeit für Angebote der ErWaB in DGS

-          Empowerment und Selbstbefähigung

-          Soziale und lokale Teilhabe durch Bildung

 

Damit die Teilnehmenden aus anderssprachigen Ländern die Inhalte auch wirklich mitbekommen konnten, wurden die Beiträge von den tauben Gebärdensprachdolmetschenden von DGS (Deutsche Gebärdensprache) in ISL (Internationale Gebärdensprache) und auch umgekehrt, gedolmetscht.

Die nächsten Meetings werden für Oktober/November 2023 in Prag (Tschechien), für April/Mai 2024 in Slowenien und als Abschlussmeeting im Jahre 2024 in Italien geplant.

 

Demokratie, Klima, Frauen im Ehrenamt, Tierwelt und Theater am ersten Tag

 

Am Beginn des Wissenskongresses nahmen auch die Vertreterinnen der thüringischen Landesregierung und der Stadt Weimar teil und machten sich ein Bild vom Kongress. Die Begrüßungen wurden am ersten Tag, dem 7. Juli 2023, vom NETGEST-Vorsitzenden Rudi Sailer und dem Vize-Vorsitzenden Christian Schönbeck durchgeführt. Die gesamte Veranstaltung, alle Referate, wurden sowohl von hörenden Gebärdensprach-Dolmetscherinnen als auch von tauben Dolmetscher:innen gedolmetscht. Die Moderation für den gesamten Wissenskongress übernahm die souveräne Kärntnerin Dagmar Schnepf aus Österreich, die von ihrer Kollegin Melanie Schröer, NETGEST-Schatzmeisterin, begleitet wurde.

 

Das erste Referat übernahm Rudi Sailer, der das Thema „Demokratie im Fokus“ bearbeitete. Er präsentierte vor allem die Weimarer Republik, die in der Zwischenkriegszeit von 1919 bis zur Machtergreifung des Nationalsozialismus im Jahre 1933 stattgefunden hat. Außerdem machte er sich Sorgen um die Demokratie, dass man diese in Zukunft auch beibehalten muss und nicht durch autokratische und demokratiefeindliche Strukturen ersetzt werden.

 

Mit dem nächsten Vortrag war Linda Hemmetzberger, die studierte Biologin, mit ihrem Thema „Klimawandel – die große Wende voraus – die Klimakrise“ an der Reihe. Sie sagte, dass die Klimakrise ganz sicher auf die Menschen zurückzuführen ist, und deutete daraufhin, dass der bisherige Lebenswandel der Bevölkerung für das Klima in Zukunft nicht gut ist, und dass die rasante Klimaerwärmung große Probleme den Menschen und der Natur bereiten wird.

 

Anschließend referierten Sarah Beilborn und Melanie Schröer über das Thema „Frauen im Ehrenamt“, wo sie darauf hinweisen, dass es nicht immer selbstverständlich ist, dass sich die Frauen in den meist männerdominierenden Vereinen und Verbänden beteiligen. Es gibt viele Argumente, warum weniger Frauen in den Vorständen zu finden sind als Männer. Es wird nach einem Lösungsweg gesucht verschiedene Ehrenämter auch für Frauen interessant zu machen.

 

Das letzte Referat an diesem Tag wurde durch den bekannten Tier-Experten Martin Kulda aus Tschechien durchgeführt. Sein Thema war die Tierwelt „Markulland“. Der Name „Markulland“ stammt aus seinem Vornamen MARtin und seinen Nachnamen KUlda und dazu das „LAND“ (weil das in seinem Bereich ist, daher nennt er es „Land“) am Schluss angehängt. Er hat sehr viele Erfahrungen mit den Tieren und berichtete auch, dass der Klimawandel große Auswirkung auf die Tierwelt hat und rief mehrmals das Publikum auf, das derzeitige Leben zu überdenken, wie etwa weniger Fleischkonsum, weniger Plastiken.

 

Zum Abschluss des ersten Tages gab es unter der Leitung von Moderatorin Dagmar Schnepf eine Dialogrunde mit diesen Vortragenden und das Publikum durfte auch Fragen stellen.

 

Am Samstagabend trat eine fünfköpfige Theatergruppe THOW & SHOW, die schon seit über 40 Jahren besteht, mit dem Thema „Erste Bildung in Gebärdensprache“ im Saal auf. Des Weiteren zeigten sie auch während des gesamten Wissenskongresses einige lustige Sketchs.

 

 

Themen beim zweiten Tag: Fluchterfahrung und Politik

 

Am zweiten Tag, dem 8. Juli 2023 durfte die ukrainische gehörlose Margaryta Getsko über ihr Thema „Situation der ukrainischen GL-Flüchtlinge – Erzählung über eigene Erfahrungen“ berichten. Sie und auch ihre Landsleute mussten viele Barrieren in der Flucht erleben. Es wurden auch viele Fragen aus dem Publikum an sie gestellt.

Danach berichtete Rudi Sailer in seinem Vortrag über „Strategische Partnerschaften – Europäische Zusammenarbeit in der Erwachsenenbildung“.

 

Mit großer Spannung wurde das Referat mit dem Thema „Geschichte der tauben Juden und Herausforderungen in der heutigen Zeit“ von der israelischen Politikerin Shirley Pinto Kadosh erwartet. Sie ist Mitglied in der Knesset (israelisches Parlament) und gab ihre Erfahrungen im politischen Bereich, wo es auch hin und wieder Barrieren gab, wieder. Sie erzählte, dass sie vier Jahre bei der israelischen Armee gearbeitet hat und sie erhielt auch wegen ihrer Leistung eine Auszeichnung durch den israelischen Staat. Diese Auszeichnung erhielten gesamt nur 120 Personen aus Israel pro Jahr. Außerdem erzählte sie auch über die Situation in palästinischen Gebieten. Sie würde gerne in Frieden mit der palästinischen Bevölkerung leben, das Problem aber ist, dass es dort viel Antipathie gegenüber israelischer Bevölkerung gibt.

 

Den Abschluss der Referatenreihe bildete der Belgier Timothy Rowies über das Thema „Partizipation Menschenrechte & UN-Behindertenrechtskonvention“. Er berichtete über seine Erfahrungen in der Politik. Er ist ein Menschenrechtsaktivist und jüngstes Ratsmitglied, also Stadtrat in seiner Heimatstadt Hoeilaart (Region Flandern, Belgien). Außerdem ist er Parteivorsitzender der Partei „PRO Hoeilaart – Grüne, Sozialisten und progressive Unabhängige“ im Stadtrat seit letztem Jahr und vertrat auch verschiedene städtische Ausschüsse. Des Weiteren ist er auch im Europarat im Rat der Mitglieder des Europäischen Jugendforums vertreten. Er ist überhaupt das erste gehörlose Mitglied in der offiziellen hochrangigen Struktur des Europarates.

 

 

Kleine Abschlussfeier – 20 Jahre NETGEST

 

Bevor das Abendprogramm begann, hat es am Nachmittag nach den Vorträgen eine kurze Präsentation der Kinder gegeben. Sie zeigten dem Publikum ihre selbstgemachten kreativen Dinge, die sie selbst in der zweitägigen Kinderbetreuung gebastelt haben.

Am Abschlussabend wurde eine kleine 20-Jahr-Feier durch den NETGEST-Vorsitzenden Rudi Sailer und dem Vizevorsitzenden Christian Schönbeck durchgeführt. Sie erzählten auch mit einer  Bilderpräsentation an der Leinwand, wie dies Organisation angefangen hat und es gab außerdem Ehrungen an treue und auch ehemalige NETGEST-Mitarbeitenden sowie auch an freiwillige Helfer:innen, wie etwa Videofilmer, Fotografen, Ordner:innen, Vortragenden, Moderator:innen. Sie alle bekamen eine kleine Erinnerung, also die Dankmedaillen. Ebenso wurde ein großer Dank an den Vorsitzenden Rudi Salier mit seiner geliebten Frau Traudl durch Vizevorsitzenden Christian Schönbeck mit Urkunde und Blumen gerichtet.

 

Am letzten Tag, Sonntag, dem 9. Juli 2023, wurde ein großer Stadtrundgang mit Gebärdensprachdolmetscher:innen in Weimar durchgeführt. Einige mussten schon früh wegen weiter Entfernung heimfahren, jedoch haben sich viele Interessierte an dieser Stadtführung befunden.

 

Bericht: Paul Steixner